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Als Mitte März der Lockdown verkündet wurde, packte mich die Angst. Kann ich meinen Coiffeursalon behalten, den ich über Jahrzehnte aufgebaut habe? Ich hatte schon ein bisschen Geld gespart, aber das war eigentlich für nach der Pensionierung gedacht. Die erste Woche plagten mich die Sorgen und es ging mir gar nicht gut. Aber als es sich abzeichnete, dass es wohl länger dauern würde, sagte ich mir: So lange Ferien hast du noch nie gehabt, soviel Zeit für dich selber. Ändern kannst du sowieso nichts. Also freu dich doch lieber darüber! Und tatsächlich konnte ich dann die weiteren fünf Wochen des Lockdowns sehr geniessen. Ich habe viel im Haus und im Garten gemacht, endlich einmal ohne Stress und Zeitnot all die kleinen Sachen erledigt, habe mich mit meinen Katzen unterhalten und die Fenstersimse gestrichen. Ich habe regelmässig ausgedehnte Telefongespräche mit meinem Vater geführt. Und ich konnte mich trotz all der Aktivtäten hinsetzen und in Ruhe über etwas nachdenken oder meditieren. Ja, es war eine tolle Zeit.

Als der Bundesrat dann verkündete, dass die Coiffeure schon bei der ersten Lockerungsrunde öffnen dürfen, hörte man rundum begeisterte Leute. Wie toll es ist, wieder arbeiten zu können, wie glücklich und privilegiert man sich fühlt, als erste das normale Leben wieder aufzunehmen. Für mich war es fast ein bisschen ein Schock. Ich dachte: Von mir aus könnte es ewig so weitergehen. Natürlich freute ich mich, meine Kundinnen und Kunden wieder zu sehen, viele sind mir im Laufe der Zeit nahegekommen. Aber selber über meine Zeit zu verfügen, keine äusseren Verpflichtungen zu haben und keinen durchgetakteten Alltag – das würde ich sehr vermissen.

Ich habe verstanden, was es bedeutet, pensioniert zu sein und war auch ein bisschen neidisch auf die Leute, die in Rente sind und nicht mehr arbeiten müssen. Mit neidisch meine ich überhaupt nicht, dass ich es jemandem nicht gönnen würde, im Gegenteil. Aber ich hätte halt auch gerne viel Zeit.

Unterdessen sind schon ein paar Wochen vergangen. Ich habe mich noch immer nicht an die Maske gewöhnt. Es ist schlimm, dass man nur das halbe Gesicht sieht, man sieht zum Beispiel gar nicht recht, wenn jemand lächelt. Als Coiffeuse macht es die Arbeit nicht gerade leichter. Aber gerade eben hatte ich wieder ein so gutes Gespräch mit dem Kunden von vorhin, dass ich dachte: Ich bin schon sehr privilegiert, kann solche persönlichen Gespräche führen, so etwas würde normalerweise bei einem Treffen im Kaffee stattfinden. Aber ich arbeite dazu und verdiene so meinen Lebensunterhalt. Vielleicht ist es doch gut, dass der Lockdown nicht ewig dauerte.

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Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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