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Der Soziologe Ray Oldenbourg hat den Begriff der «Dritten Orte» geprägt. Das sind Orte, die weder dem Familien- noch dem Arbeitsleben dienen. Auch moderne Bibliotheken zählen zu diesen Dritten Orten. Beheizte, eingerichtete Räume, ohne Konsumzwang, mit einem grossen Angebot an Kultur und Information. Alle können sie nutzen, solange sie sich an ein paar elementare Verhaltensregeln halten, auch Ortsfremde oder Wohnungslose. Solche Räume nur wenige Stunden pro Woche zu öffnen ist blöd; wie Autos, die 23 Stunden pro Tag auf einem Parkplatz stehen.

Ich komme aus Deutschland, wo ich in den letzten Jahren einige Bibliotheken auf ihrem Weg zu zeitgemässeren Angeboten begleiten konnte. Die Schweiz ist da in bestimmten Bereichen schon weiter, deshalb besuche ich hier ein paar Bibliotheken und sammle Ideen. Ich war in Uster, Aarau und Oerlikon, das sind alles Bibliotheken, die man mit dem Bibliotheksausweis auch ausserhalb der Öffnungszeiten nutzen kann. In Uster sogar an sieben Tagen die Woche von 6 bis 22 Uhr. Es kommen hier Leute morgens vor der Arbeit oder später am Abend, holen oder bringen Bücher, lesen Zeitung. Man hat die Räume schön eingerichtet, sodass man sich wohlfühlt, es gibt Internet, eine Kaffeemaschine, eine Kinderecke, Pflanzen und Sofas. Man könnte meinen, dass es Missbrauch gibt, Vandalismus oder Bücherklau. Dass doch jemand kontrollieren muss. Aber solche «Open Libraries» zeigen, dass es funktionieren kann. Denn die meisten Nutzer:innen sind grosse Fans dieser neuen Freiheit und kümmern sich dann auch um ihre Bibliothek. Wer zum Beispiel zuletzt im Raum ist, schaut, dass die Fenster am Schluss zu sind. Das finde ich eine tolle Sache.

Mit dem Aufkommen des Internets hat sich die Bedeutung von Büchern verändert. Man fragte sich: Wozu noch Bibliotheken? Dabei sind Bibliotheken etwas für die Leseförderung unverzichtbar. In Kooperationen mit Kitas und Schulen kommen hier Kinder aus allen Milieus mit Büchern in Berührung, sie staunen, dass es überhaupt so viele Bücher gibt. Es gibt Lese-Tandems, Lesungen von Autor:innen, aber du kannst auch einfach deine Hausaufgaben vor Ort machen, wenn du zuhause wenig Platz und Ruhe hast. Für ältere Menschen gibt es Angebote zur Nutzung von digitalen Geräten.

Bibliotheken sind auch Pioniere der Sharing-Idee. Früher waren Bücher sehr teuer und man wollte, dass möglichst viele Menschen sie lesen können. Dieses Teilen weitete sich allmählich aus, etwa auf CDs, DVDs und Videospiele. Mittlerweile gibt es aber auch «Bibliotheken der Dinge», wo man selten benutzte Sachen wie eine Popcorn-Maschine oder Karaoke-Anlage ausleihen kann. Es gibt sogar Orte, wo man ein E-Bike für den Transport bekommt. Und immer mehr Bibliotheken haben sogenannte Maker Spaces, wo man mit 3D-Druckern arbeiten kann, oder sogar richtige Musikstudios.

Bibliotheken nivellieren gesellschaftliche Unterschiede, bieten auch Menschen aus weniger privilegierten Verhältnissen alle diese Möglichkeiten. Und sie helfen gegen Vereinsamung: Heute haben wir ja alle unsere eigene kleine Bibliothek in der Tasche. Wir lesen im Zug, an der Bushaltestelle, daheim. Hier haben wir einen Raum, wo wir gemeinsam lesen, zwar jeder etwas anderes, aber nicht allein. Bibliotheken sind also keine blossen Buch-Behälter, das wäre nämlich die wörtliche Übersetzung aus dem Griechischen, sie sind öffentliche Wohnzimmer und Orte für Menschen.

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Stories for Future wurde 2020 von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer ins Leben gerufen. Das Projekt ist nicht-gewinnorientiert und zählt auf viel freiwillige Arbeit. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt Stories for Future für die Projektphase 2021-2024. Neben der digitalen Publikation veranstaltet Stories for Future immer wieder Ausstellungen im physischen Raum und Workshops und Vorträge.

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