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Mein Leben, wie es sich verändert hat, ist wie die Klimakrise: Zuerst schleichend, dann kamen Kipppunkte, Weichenstellungen und es gab kein Zurück mehr. Als junge Frau habe ich mit einer Freundin in Walenstadtberg  den ‘Monte Vuala’, ein basisdemokratisches Kurszentrum, aufgebaut, das zum ersten Frauenhotel der Schweiz wurde. Ich lebte davor in Gemeinschaften in Schottland, in Indien, in Deutschland – es war die Zeit der New-Age-Bewegung. Ich fühlte mich wohl, aber eine erste Einsicht, der erste eigene ‘Kipppunkt’ kam bald: Alternative Subkulturen können wir uns nicht mehr leisten. Wir sollten nicht isoliert unsere Überzeugungen frei leben. Wir sollten nach aussen in die Gesellschaft wirken. James Hillmann, ein amerikanischer Psychoanalytiker, schrieb damals: ‘100 Jahre Psychoanalyse. Und der Welt geht’s immer schlechter.’ Wo sind sie, die Menschen, die eine Psychoanalyse durchlaufen haben, was geben sie zurück in die Gesellschaft? Seine Frage öffnete mir die Augen. Sich persönlich weiterzuentwickeln macht doch nur Sinn, wenn es gesellschaftlich etwas bewirkt.

Als Konsequenz meiner persönlichen Veränderungen akzeptierte ich: Es ist eine andere Zeit angebrochen. In meinen Engagements ging es früher darum, was mir gerade in den Sinn kam. Ozonloch, saurer Regen, Waldsterben, Tierrechte – ich konnte überall beitragen und mein Leben trotzdem weiterleben wie bisher. Die Klimakrise ist komplett anders. Ich kann das persönliche Leben nicht mehr einfach um einzelne Klimaprobleme herumgestalten, es geht um den ganzen Planeten. Gerade für meine Generation, die viele Privilegien und Freiheiten genossen hat, sieht das zuerst mal nach Verlust und Verzicht aus. Höchste Zeit, dass wir dieses Vorrecht nicht mehr haben! Wo sind wir denn gewesen? Das hätte doch viel früher schon passieren müssen. Jetzt gehts  einfach drum, kollektiv zu denken. Freiwillig, mit Interesse, mit Neugier, mit dem Mut, Federn zu lassen für etwas, das anderen Federn gibt.

Ich hatte in Zürich eine psychologische Praxis, bildete Therapeut*innen in der Focusing-Methode aus, war im Tier- und Umweltschutz, hatte ein kleines Haus am Pfäffikersee neben dem Naturschutzgebiet, einen Garten, drei Büsis, ein Pferd. Und es kamen die Fragezeichen, zum Beispiel: Wie sehr muss ich mich abstrampeln, um das alles aufrechtzuerhalten? Eines Tages habe ich einfach alles Hab und Gut eingelagert, die drei Büsis eingepackt und bin mit ihnen auf die Rigi in eine Alphütte gezogen. Vorgehabt hatte ich maximal drei Monate, um herauszufinden, wie ich weitermachen will. Wie eine Zwiebel haben sich in dieser Stille und im Nicht-Tun immer mehr Schichten meiner Identität abgeschält. Ich war nicht mehr die Therapeutin, die Dozentin, die für Seminare ins Ausland reist. Es war ernüchternd, wie wenig wichtig all das wurde. Ich merkte, ich will gerade mal gar nicht weiter, das ist es jetzt einfach. Dieses Offene, die Leere auszuhalten, nicht depressiv zu werden, wenn gar nichts mehr da ist ausser die Alphütte und die drei Büsis, war schwierig. Dann sass ich da und schalt mich: Was hast du bloss aus deinem Leben gemacht?

Bis ich gemerkt habe, wenn ich ruhig auf der Wiese sitze,  kommt ein Dachs, ein Reh oder ein Fuchs. Es wird lebendig, ohne dass ich überlegen oder planen muss. Das Lebendige ist noch da, überall, wo man es nicht hindert, dort, wo man es einlädt. Das war der nächste Kipppunkt. Ich mochte besonders  mit der nichtmenschlichen Umwelt in Kontakt treten. Es war wie eine Befreiung, mich wieder gegen aussen zu richten. Irgendwann kamen nicht nur Tiere, sondern auch Menschen. Eine Frau sagte: Es wird kalt, ich unterrichte untertags, dort ist der Wohnungsschlüssel, geh doch bei mir in die Badewanne, wenn dir kalt ist. Eine andere Frau kam mit einem Topf warmer Linsen vorbei. Eine dritte, die im alten Bahnhöfli wohnte, sagte zu mir: Oben ist eine leerstehende Wohnung, mach dir doch ein Zimmer parat, dann ist geheizt und du hast Strom. Der Bahnhof war zum Abbruch frei gegeben und deswegen nicht mehr vermietbar. So richtete ich mich für den Winter ein, habe mit dem Spachtel den alten Dreck im Badezimmer entfernt, aus zurückgelassenen Möbeln und ein bisschen Farbe etwas Bewohnbares gemacht. Wir lebten überall verstreut auf dem Berg und es begannen in unserer grossen Küche Bergfrauentreffen. Dass das Haus so abgefuckt war, spielte keine Rolle. Wir hatten die besten Jahre.

Zwei Jahre leitete ich interimsmässig das buddhistische Zentrum Felsentor auf der Rigi. Ich bin zwar nicht Zen-Buddhistin, pflege eine nicht formgebundene Spiritualität, aber wie frau ein Kurszentrum führt, das wusste ich von meiner Zeit auf dem ‘Monte Vuala’. Ich nahm das männerdominierte hierarchische Konzept auseinander, demokratisierte die Strukturen, die Küche wurde bio und saisonal, Vegi sowieso, öffnete die Terrasse mit Selbstbedienung für Vorbeiwandernde. Kurz, krempelte so ziemlich alles um. Dann der nächste Kipppunkt: Die Tatsache, dass  wir Menschen es nicht besser auf die Reihe bekommen, die gehört zum alten System, ist problemorientiert, immer ungenügend. Wenn etwas in mir ruft, vertraue ich dem und versuche es einfach.

So bin ich schliesslich wieder zurück nach Zürich und zu meiner therapeutischen Arbeit. Ich zog mit Olga, meiner jetzigen Frau zusammen. Das bekam nochmals eine ganz andere Dynamik. Sie stand als Künstlerin satirisch auf der Bühne, erfrischend frech. Als personzentrierte Therapeutin unterstütze ich ja den inneren Prozess der Menschen. Da durften früher meine persönlichen Themen wie Tierschutz, Klima, Aktivismus nicht reinfunken. Von Olga lernte ich, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Ich begann gesellschaftlich aktuelle Themen ansatzweise in die Arbeit einzustreuen. Ich sprach in Gruppen Gewaltthemen, Frauenthemen, Klimathemen an. Ohne Zwang, als Angebot, die Menschen konnten das überhören, wenn sie wollten. Aber ich begann, eine klare Grundhaltung zu kommunizieren: Bei mir gibt es diese Themen. Gerade als Therapeut*innen sollten wir offen sein für Zeitthemen. Ich begegne jetzt mehr Jugendlichen und Aktivist*innen mit Burnout, Depressionen, Verzweiflung.

Ich fühle mich ganz, seit ich privat und beruflich keine getrennte Person mehr bin. Und ich fühle mich als Therapeutin wirksamer. Es geht um mehr als nur das Ich, es geht darum, unser eigenes Zeug in Ordnung zu bringen, damit wir etwas zu dieser komplexen Zeit beitragen können. Wir begannen Klimagespräche zu leiten. In Gruppen sprechen besorgte Menschen offen persönlichen Konflikte an, die sich in der Auseinandersetzung mit der Klimakrise ergeben. «Meine Tochter findet mich total blöd, weil wir mit dem Zug nach Griechenland reisen wollen» zum Beispiel. Oder eine Mutter, die sagt: «Ich könnte weinen vor Verzweiflung, was soll ich denn jetzt meinen Kindern auf ihre Angst antworten?» Aus den Klimagesprächen ist ein Klimastammtisch geworden, offen für alle. Da wächst etwas zusammen, in einem gemeinschaftlichen Austausch.

Ich bin noch einen Schritt weitergegangen, habe meine sichere Dozentinnenarbeit aufgegeben, meine Praxisarbeit reduziert. Ich gebe mir ein Jahr Zeit, möchte rausfinden, wo und wie ich gesellschaftlich am meisten beitragen kann. Ich lebe von Ersparnissen, aber ich finde, ich habe keine Zeit mehr für einen sicheren Job. Es ist meine Art, jetzt Farbe zu bekennen zu dem, was ich auf der Rigihütte erlebt habe.

Zusammen mit Olga habe ich das ‘Frauenspinnrecht’ ins Leben gerufen. Frauen sitzen am Feuer, hören sich in Bezug auf die gegenwärtige Klimakrise gegenseitig zu, lassen entstehen, was es gerade braucht. Ein ganz archaisches Erleben. Manchmal liegt ein Zauber über allem. So kommt in einer noch so kleinen Gemeinschaft etwas zusammen, was mehr wird, als wenn du es alleine tun würdest.

Wir probieren neue Formate aus, weg von Konventionen und Strukturen. Es macht neugierig, nicht recht zu wissen, was sich ergeben wird. Voneinander lernen, Lebenserfahrung zu teilen, wohlwollend sein. Achtsam in die Natur eingebettet. Einem Eichhörnchen zuzusehen, mich zu fragen, war es schon immer da und habe ich es einfach nicht gesehen? Nichts mehr für selbstverständlich zu nehmen, den enormen Verlust der Natur zu sehen, betrauern, mit auszuhalten und sich einzusetzen für die Bewahrung der Umwelt. Wieder eine Verbindung herzustellen, zu wissen, es gibt keine Trennung, unser Körper ist Natur. Und ohne Angst vor Veränderung auch Liebgewordenes loszulassen, gerade weil es gut war und seinen Zweck erfüllt hat. Mit dem Grundvertrauen, dass wieder etwas Lebendiges kommt, das zu einem passt.

Vielleicht gehen wir als Menschheit unter, möglich. Aber ich möchte gegen die Resignation angehen, weder enttäuscht noch verängstigt leben. Wirkend sein. Mich unserer Zeit stellen, nicht verdrängen oder kompensieren, sondern voller Lebenskraft zu Zukunftstauglichem beitragen. Auch mit Spass und Humor und Leichtigkeit und Optimismus. Ein neuer Reichtum, finde ich.

Diese Story wurde im Rahmen des Projekts Stories für Züri gesammelt.

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Stories for Future wurde 2020 von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer ins Leben gerufen. Das Projekt ist nicht-gewinnorientiert und zählt auf viel freiwillige Arbeit. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt Stories for Future für die Projektphase 2021-2024. Neben der digitalen Publikation veranstaltet Stories for Future immer wieder Ausstellungen im physischen Raum und Workshops und Vorträge.

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