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2016 zog ich für drei Jahre in die Ukraine. Zuvor hatte ich in Zürich und St. Petersburg Politikwissenschaften und russische Literatur studiert. In Kiew habe ich für die OSZE, später an der Schweizer Botschaft gearbeitet, jeweils zu Friedensförderung und Menschenrechten. Wir haben zum Beispiel eine kleine Nichtregierungsorganisation unterstützt, die mit forensischer Expertise Informationen über Leute sammelt, die seit 2014 in Massengräbern verschwunden sind. Meine Partnerin war für das IKRK ebenfalls in der Ukraine, sie hat vor allem Gefangenenbesuche gemacht.

Kiew war eine extrem lässige Stadt. Der Krieg war damals da, aber auch weit weg. Wir hatten mitten im Stadtzentrum beim Maidan-Platz eine komfortable alte Wohnung. Bei der Arbeit habe ich Leute kennengelernt, aber auch an der Velodemo Critical Mass oder beim Fussballspielen. Viele sind unterdessen geflohen, aber die meisten Männer können oder wollen nicht gehen. Einige unterstützen in Freiwilligenverbänden die Armee. Andere, die das nicht wollen und auch nicht zur Armee eingezogen wurden – oder noch nicht – leben bei ihren Familien auf dem Land und versuchen sich irgendwie zu arrangieren. Wir bleiben per Whatsapp im Kontakt, das funktioniert erstaunlicherweise immer noch sehr gut.

Niemals hätte ich gedacht, dass sowas wie die russische Invasion passiert. Ich habe bis zuletzt mit voller Überzeugung argumentiert, dass es aus russischer Sicht einfach kein rationales politisches Ziel für einen Krieg geben kann. Aber diese Einschätzung war kreuzfalsch, ich habe es einfach nicht kommen sehen. Als es passiert ist, habe ich mit Ungläubigkeit reagiert, dann mit Angst. Ich denke viel an meine Freundïnnen. Was wird mit ihnen passieren? Und überhaupt: so viel, was in den letzten Jahren erreicht wurde, ist auf einen Schlag zunichte gemacht. Das Land wird um Jahrzehnte zurückgeworfen. Auch für Russland gilt das, nicht nur wirtschaftlich, auch gesellschaftlich, all die Propaganda und Gehirnwäsche. Es ist einfach nur frustrierend.

Jetzt arbeite ich bei Public Eye als Fachexperte Finanzen und Rohstoffe. Ein grosser Teil des Handels mit russischem Öl fand bis zur Invasion in der Schweiz statt. Es ging um sehr viel Geld, man schätzt, dass der russische Staat 200 bis 400 Milliarden pro Jahr mit diesen Geschäften verdiente. Der Rohstoffhandel trägt übrigens mehr zum Schweizer BIP bei als der Finanzplatz, das ist uns einfach nicht bewusst. Es braucht mehr Transparenz und ähnliche Regulierungen wie für den Finanzplatz. Auch da hat der Krieg viel verändert. Geld aus Russland, aber auch aus der Ukraine, wurde in grossen Mengen auf Schweizer Konten versteckt. Bei ihnen daheim fehlt dieses Geld, wird nicht in Schulen, Strassen oder Spitäler investiert. Wenn wir dank dem grossen öffentlichen Druck bei uns zu neuen Lösungen kommen, wäre das zumindest ein kleiner positiver Effekt dieses schlimmen Krieges.

Mir persönlich hilft es extrem, dass ich meine Erfahrungen nützlich machen darf. Unser Beitrag ist vielleicht winzig klein, aber es ist Arbeit für die gute Seite. Ich glaube, ich bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Diese Story wurde im Rahmen der Serie Stories für Züri gesammelt.

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Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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