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Eigentlich wollten wir damals nur eine Kolumne über die Stimmung in Kiew bringen, eine Zusammenarbeit des Onlinemagazins Republik mit dem ukrainischen Fotografen Lesha Berezovskiy. Wie lebt eine junge Generation, aufgewachsen in einem demokratischen Land, aber unter konstanter Bedrohung? Es gab in Kiew diese Energie, alles war im Umbruch, vieles wurde möglich, man machte einfach. In der Nacht vor unserem ersten Call brach der Krieg aus. Ich habe ihn gefragt, ob er trotzdem mit uns arbeiten will. Dass aus der Zusammenarbeit einmal ein Buch und eine Freundschaft entstehen würden, hätte ich damals nie gedacht. Am Anfang hat er alle paar Tage Fotos und einen Text geschickt. Ich habe Rückfragen gestellt, ihn auch gefragt, wie es ihm geht, wenn ich von einem Angriff gehört habe. Ich hatte Bedenken: Ist das übergriffig, was darf ich ansprechen, wenn Krieg herrscht? Er hat über sich erzählt, über seine Frau, die Familie. Wir fühlten uns trotz der Distanz schon bald sehr verbunden. Als sich im Sommer 2022 die Lage etwas entspannte und die Aufmerksamkeit für den Krieg abnahm, liess er seine Freundïnnen zu Wort kommen. Die Leute dort funktionieren unglaublich pragmatisch, haben im Handumdrehen Hilfsorganisationen gegründet. Aktiv zu werden hilft ihnen, die Situation zu ertragen. Bei uns würde man vielleicht darauf warten, dass eine Behörde das Problem löst.

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Foto: zvg

Im November durfte er für Ausstellungen nach Paris, Berlin und Hamburg reisen. Auch in die Schweiz haben wir ihn eingeladen. Nach seiner Rückkehr schrieb Lesha aus Kiew über seinen Besuch: «Ich fuhr mit dem Fahrrad durch die Gegend und fühlte mich plötzlich traurig. Nicht weil ich Zürich verlassen musste, sondern weil ich diesen Frieden und die Unbeschwertheit nicht mitnehmen konnte.»Vor einem Jahr haben wir beschlossen, aus den Kolumnen ein Buch zu machen. Zur Vernissage im Juni konnte Lesha leider nicht kommen. Das Risiko, dass er beim Beantragen der Ausreisebewilligung gleich eingezogen wird, war diesmal einfach zu gross. Der Zoom-Call vor dem Publikum war sehr persönlich und emotional. Er sagte, dass er manchmal ein schlechtes Gewissen habe, nicht aktiv an der Front zu sein. Aber seine Stimme wird im Ausland gehört und erinnert uns auf besondere, unmittelbare Art daran, dass der Krieg noch nicht vorbei ist. Diese ruhigen Bilder in der wahnsinnigen Welt des Krieges. Der Rennvelofahrer auf der zerstörten Brücke, das ist so beiläufig, so scheinbar normal.

Foto: Lesha Berezovskiy @lewa_kartowa

Ja, die Kolumnen aus Kiew sind wirklich zu meinem Herzensprojekt geworden. Lesha ist direkt und offen, seine Freundïnnen ebenso. Hat das mit ihrer Situation zu tun? Es geht dort schnell einmal um Existenzielles, um den heissen Brei zu reden, liegt da nicht drin. Durch den Kontakt mit ihm bin ich neugieriger geworden, gehe auf Menschen vertrauensvoller, authentischer zu. Er hat mir eine Vorstellung davon gegeben, was dieser Krieg bedeutet, was er mit den Menschen in Kiew macht und wie sie trotzdem einen Weg finden, ihr Leben zu leben. Ich habe mich gefragt, wäre ich fähig dazu? Ich möchte es glauben.

Diese Story wurde im Rahmen der Serie Stories für Züri gesammelt.

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