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In Spanien setzt man jahrhundertealte arabische Bewässerungssysteme wieder instand. Manche Wasserleitungen der Römer sind noch immer in Betrieb. Und die Inkas bauten hoch in den Anden Pflanzen an und ernährten damit ihr ganzes Reich. Mit Terrassen, Steinmauern und Bewässerungssystemen, die heute noch funktionieren. Geht das nicht auch in den Schweizer Alpen? Ich träume manchmal von Permakulturgärten und Trockenmauern anstelle von Kuhweiden auf abrutschenden Berghängen.

Lösungen waren schon immer da, wir wissen häufig einfach nicht mehr davon. Auch die meisten Fehler hat unsere Welt schon hundert Mal gemacht. Wenn das dokumentiert wäre, würden wir sie ja vielleicht nicht zum hundertundeinen Mal machen. Das wäre dann nachhaltige Information. Solche zu sammeln, zu strukturieren und zugänglich zu machen ist die Aufgabe eines Archivars. Ich bin der Archivverantwortliche am Schauspielhaus Zürich.

Wenn du das Schauspielhaus renovierst, bist du froh, hat es noch Pläne der Elektroleitungen, bevor du in die Wand reinhaust. Oder wenn am Publikumsgipfel lamentiert wird, dass man zu viel modernes Zeugs spielt, dann hilft es zu wissen, dass das schon vor siebzig Jahren beklagt wurde. Was an einem Theater archiviert wird, ist häufig Zufall. Bronzeköpfe von alten Intendanten hinter der Klimaanlage, lebensgrosse Puppen von Schauspielern in einer Rumpelkammer. Einmal fand ich alte Unterlagen von Brecht und Weill, Text und Sound in der Dreigroschenoper. Die zwei Kommunisten haben sich über die Verteilung der Kohle gestritten.

Archivierung ist ein Machtinstrument, es geht um Deutungshoheit. Ist die Landung von Kolumbus in Amerika nun der Discovery Day oder der Invasion Day? War das alte Griechenland Demokratie oder Sklavenstaat? Kommt drauf an, wer seine Interpretation archivieren durfte. Viele Unterlagen aus der Schweizer Waffenindustrie 1939 bis 1945 sind nicht mehr da. Oder Bauern, die haben in mittelalterlichen Aufständen als erstes die Unterlagen über ihre Steuerschulden verbrannt. Sicherungskopien gab es damals nicht. Wenn’s weg ist, ist’s weg.

Kennst du die Stadtvision Bolo’Bolo aus den Achtzigerjahren noch? Wir könnten wie in Viersternehotels wohnen. Wenig privater Raum, dafür Luxus in den geteilten Räumen. Weshalb kennen viele das heute nicht mehr, das ist doch jetzt relevanter denn je?Ich archiviere, was ich erhaltenswert finde, idealerweise was Menschen in hundert Jahren noch brauchen können. Vielleicht überlebt ein Grossteil der Menschheit die nähere Zukunft nicht, dann interessiert’s auch niemanden mehr, was mal war. Aber viele menschliche Zivilisationen sind schon untergegangen und die Menschheit hat‘s überlebt. Auch davon können wir lernen. Je besser die Aufzeichnungen, desto einfacher – wenn unsere Gesellschaft denn lernen will.  

Aber ich finde, es gibt noch viel Potential für schöne Zukünfte, bevor unsere Sonne eine Supernova wird. Es ist ja Teil des menschlichen Grössenwahns, zu denken, wir schaffen es dann schon noch auf einen anderen Planeten. Ob das wirklich wünschenswert ist? Ich jedenfalls möchte keinen Invasion Day in der nächsten Galaxie.

Diese Story wurde im Rahmen der Serie Stories für Züri gesammelt.

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