39 Jahre lang war ich mit Herzblut Oberstufenlehrerin. Angefangen habe ich mit 23, pensionieren liess ich mich mit 62. Es war eine sehr schöne Zeit.
Zuerst überlegte ich, nach meiner Pensionierung weiterhin etwas Lehrerähnliches zu machen, zum Beispiel mit Flüchtlingen oder Flüchtlingskindern. Aber dann fand ich, dass ich lieber nichts so Geführtes oder Geplantes mehr machen möchte. Dann gibt es mehr Platz und Raum für neues. Das fand ich spannend!
Einmal sass ich in einem Spitalcafé. Er hat die Tische geputzt. Als er meinen Tisch putzte, bedankte ich mich und kam sofort ins Gespräch mit ihm. Kurz danach ist er dann noch einmal zu mir zurückgekommen. Er hat sich so gefreut, dass ich seine Arbeit geschätzt habe und vielleicht auch, dass wir uns auf einer so menschlichen Ebene begegnet sind. Er bedankte sich für das Gespräch und wünschte weiterhin Kontakt mit mir. Seit da haben wir uns ab und zu im Café getroffen, ich, eine pensionierte Lehrerin, er, ein junger Mann aus Afghanistan, in der Schweiz als Flüchtling. Wir haben über alles Mögliche gesprochen. Über sein wunderschönes und vom Krieg geplagtes Land, seine grosse Familie, seine Flucht. Immer wieder auch darüber, wie er seine Mutter sehr vermisst, das sagte er oft. Und irgendwann fragte er mich: «Möchtest du hier in der Schweiz meine Mama sein?» Stell dir das vor. Ich bin mit 63 Jahren noch Mama geworden.
Dass ein Muslim eine Christin so etwas fragt, das ist wohl nicht selbstverständlich, das ist doch schön. Es ist für uns beide auch sehr spannend, die andere Kultur kennenzulernen. Mittlerweile kommt er auch gerne ab und zu bei mir zu Hause zum Zmittag vorbei. Wir haben uns immer noch viel zu erzählen, können viel voneinander lernen. Der Gesprächsstoff geht uns nicht aus.
Er ist nun im Alter, wo er eine Frau sucht, zum Heiraten, nicht als Freundin, so wie es in seiner Kultur üblich ist. Erst gerade hat er eine afghanische Familie mit einer Tochter getroffen, die ihm gefällt. Wenn Corona nicht gewesen wäre, wären wir zusammen vorbeigegangen, um uns vorzustellen und die Familie kennenzulernen.
Wenn er mal seine eigene Familie hat, kann es sein, dass er mich dann nicht mehr so braucht. Oder vielleicht werde ich dann einfach Grossmama, wer weiss?
Diese Geschichte wurde uns and der Ausstellung “Sharity” in Rapperswil erzählt. Einen Tag lang teilten wir dort spontan gute Geschichten mit allen möglichen Menschen. Freut euch auf mehr!