Meine beiden letzten grossen Filme waren «Flying Home» über meinen Onkel Walter und «Zum Säntis!» zusammen mit Franz Hohler. Ich habe gemerkt, dass ich keine so grossen Projekte mehr machen mag, mit langen Wegen und vielen Beteiligten. Aber was kann man ganz alleine machen? Ich begann, Erinnerungen aus meinem Leben zusammenzustellen, mit Aufnahmen von früher. Dabei halfen mir zwei Elemente, eine filmische Struktur zu finden: Ein Ort – das Lido von Riva San Vitale –, beim Schwimmen kamen mir viele Gedanken. Ich kaufte mir eine Action-Kamera und schwamm fast jeden Tag diesen Gedanken nach. Und da war noch diese Musik, die ich geschenkt bekam, zwölf Jazz-Stücke mit Saxophon und Kontrabass. Sie verbindet sich mit den Bildern, und die Wahrnehmung der Bilder wird von den Tönen beeinflusst. Die Musik gibt mir die Timeline, und die Aufnahmen vom Lido sind der rote Faden, der die Erinnerungen verbindet.
Ich habe mit den einfacheren Geschichten angefangen: Die filmische Begegnung mit einem Maler, der kurz vor seinem Tod mit mir geredet hat. Eine einzige Einstellung, und die Musik passt perfekt dazu. Eine andere Geschichte zeigt unseren Umzug ins Tessin. Und dann gibt es mehrere Filmfragmente vom Bahnhof Enge, hier kreuzen sich einige Geschichten. Meine Mutter verbrachte ihre letzten Jahre im Altersheim hinter dem Bahnhof. Als sie um die Achtzig war, habe ich bei einem unserer Spaziergänge Aufnahmen von ihr gemacht, um ihr zu zeigen, wie gut sie noch zu Fuss ist. Mit dieser Geschichte tue ich mich richtig schwer, sie geht mir nahe, zu viel Familie. Warum soll ich sie überhaupt zeigen?
Als ich zum Unterrichten jeweils nach Luzern gefahren bin, sah ich täglich einen Zug der Südostbahn mit einem uralten Speisewagen am Bahnhof Enge. Dieser Speisewagen hat mich sehr fasziniert, weil er mich an eine verschwundene Schluss-Szene des Filmes Otto e Mezzo von Federico Fellini erinnerte, den ich sehr liebe. Aber das würde zu weit führen, was da alles dahinter steckt… Jedenfalls habe ich ohne viel zu denken den Wagen immer wieder gefilmt, es war irgendwie traumhaft. Wenn dieser Speisewagen nicht gewesen wäre, dann hätte ich mich nicht so auf den Bahnhof eingelassen und meine Kamera immer wieder laufen lassen.
Eines Morgens, als ich wieder am Bahnhof filmte, ist so ein kleiner Zwirbel mit blonden Strubelhaaren und einer Brille mit seinem Trottinett auf dem Perron herumgefahren. Ich bin ihm ein bisschen nachgegangen und habe ihn aufgenommen, ihn hat das gar nicht gestört. Dann bin ich vorne auf den Perron gelaufen, um in meinen Zug zu steigen, aber zuerst kam noch ein anderer. Ich stand vor der Lokomotive und machte eine Aufnahme dem Perron entlang nach hinten, und in dem Moment kommt der Kleine mit seinem Trottinett nach vorne gesaust, hält, der Lokführer schaut raus, und die beiden winken sich zu. Das war ein unerwartet-poetischer Moment, es wirkte wie eine vertraute Begegnung und nicht wie ein Zufall. Auch bei dieser Geschichte hat das Musikstück ganz präzis gepasst, es ist einfach alles aufgegangen.
Beim Schneiden kam mir noch eine Erinnerung an den Bahnhof in den Sinn: 1965 habe ich als Deutschlehrer in Paris gearbeitet. Ich bin oft mit dem Arlberg-Express» über Nacht nach Zürich gefahren. Der fuhr nicht in den Hauptbahnhof, sondern via Enge weiter nach Wien, Budapest und Istanbul. Der mythische Zug hielt in diesem kleinen Bahnhof, das ist doch verrückt.
Sechs Szenen sind jetzt mehr oder weniger fertig. Es wird schwieriger. Manchmal denke ich, ich könnte es einfach so lassen. Mit den zwölf Stücken wären es etwa achtzig Minuten Film, und wenn du das alleine machst, ohne Hilfe von Tonleuten oder Monteuren, das ist fast nicht zu schaffen. Ich habe keinen Druck von aussen, und vielleicht, wenn ich mir Zeit lasse, geht es auf einmal wieder wie von selber weiter. Ich hänge sehr an dieser Idee.