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Im Frühling, während dem Lockdown, hat es sich ergeben, dass wir jeden Tag einen Spaziergang gemacht haben. Es war dann ja so schönes Wetter. Wir haben immer den gleichen Weg genommen, mit kleinen Varianten, zuerst hinauf durch die Schrebergärten, dann durch Felder und Wiesen oder dem Waldrand entlang. Es war Frühlingsanfang, das war besonders schön, jeden Tag konnten wir Veränderungen sehen, wie die Blättchen hervorgekommen sind. Ich bin immer schon gern spazieren gegangen und habe auf das geachtet, was um mich herum ist, aber das mit meinem Sohn zu machen, das war ganz besonders. Früher hatte ich nie das Gefühl, dass ihn das besonders interessiert hat, er hatte nicht so ein Auge für Bäume und Blumen und so. Und plötzlich war das Interesse da, ich glaube, weil wir jeden Tag gingen, wurde es zum Thema. Er fragte mich Dinge wie, was ist das für ein Baum, was wächst hier? Es gab ein Feld, wo wir lange nicht wussten, was wächst denn da, und dann haben wir endlich gemerkt, es ist Gerste. Und dieses Bäumchen in einem Schrebergarten, Birnen oder vielleicht Aprikosen? Und dann konnten wir zusehen, wie kleine Birnen gewachsen sind. Es war eine gute Zeit, Frühling bis Frühsommer, weil sich dann so viel verändert. Wir sind gelaufen, manchmal auf ein Bänklein gesessen, haben einfach geschaut.

Die Tiere, die es entlang unserem Weg gab, wurden wichtig, die wollten wir möglichst jeden Tag sehen. Vor allem waren da vier Mutterkühe mit ihren vier Jungen, wir sind immer bei ihnen stehengeblieben, haben gelernt sie zu unterscheiden, welches Kalb gehört zu welcher Mutterkuh. Da war eine Kuh, die stand immer etwas abseits und schaute irgendwie hässig drein, sie hat so geschnaubt und vor sich hin gemampft, wir nannte sie die Muffe und sie hatte das herzigste Kälblein von allen, das tat uns ein wenig leid. Die Kühe kamen immer wieder mal auf eine andere Wiese, wenn sie eine abgegrast hatten, manchmal waren sie in der Nähe, gleich neben dem Weg, manchmal hat man sie nur von Weitem gesehen und einmal sind die Jungen direkt auf uns zu galoppiert. Wir kamen auch immer bei ein paar Geissen vorbei, die haben nicht gross Notiz von uns genommen und einmal ist ein Fuchs ein paar Meter vor uns vorbeigerannt! Es gab auch einen Teich, da schauten wir zuerst den Kaulquappen zu und dann später haben wir immer nach den Fröschen Ausschau gehalten. Einmal war es speziell, ein Frosch begann zu quaken, auf der anderen Seite des Teichs gab ein anderer Antwort und dann immer noch einer und immer mehr, ein einziger Lärm, ein Riesengequake. Und das vielleicht drei, vier Minuten lang und dann haben sie plötzlich aufgehört, es war wieder Ruhe, sie hatten sich nichts mehr zu sagen.

Noch etwas zu den Kühen: Immer wieder sprachen wir darüber, dass die Kühe irgendwann verschwinden werden, das sind ja Kühe für Fleisch. Wir wussten nicht, wann das geschehen würde, und wenn wir sie mal nicht gerade sahen, wurden wir nervös, suchten sie und waren dann richtig froh, wenn wir sie auf einer anderen Wiese wiederfanden. Nach dem Lockdown konnten wir nicht mehr jeden Tag spazieren gehen. Einmal gab es eine Pause von vielleicht drei Wochen und als wir dann wieder einmal gingen, waren alle Wiesen leer, die Kühe waren fort. Das war ganz schlimm, ganz, ganz traurig. Später kamen wieder neue Kühe, aber es war nicht mehr das gleiche, die haben wir nicht mehr so gut kennengelernt.

Wenn ich an den Lockdown und an das ganze Jahr zurückdenke, sind in meiner Erinnerung diese Spaziergänge das Schönste, was passiert ist. Ich hatte das so gern, einfach jeden Tag zu gehen, ohne zu fragen, gehen wir oder gehen wir nicht. Es war so eine spezielle Zeit, ausser einkaufen waren wir einfach zusammen zuhause und jeden Tag unser Spaziergang. Es wurde zu einer unbeschwerten Selbstverständlichkeit, eine besondere Zeit des Zusammenseins, das man nicht beschwören musste. Es bekam etwas Ritualartiges, immer zuerst hinauf zum Böni, er trank am Brunnen einen Schluck Wasser, ich wartete, verschnaufte einen Moment vom steilen Weg, dann haben wir überlegt, welchen Weg nehmen wir? Er wollte immer bei den Kühen vorbei.

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Stories for future wurde von Moritz Jäger und Gabi Hildesheimer von Tsuku ins Leben gerufen. Die Stiftung Mercator Schweiz unterstützt das Projekt mit einem finanziellen Beitrag. Weitere Interessenbindungen bestehen nicht.

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